Orgosolo, in Sardinien, ist eines der aussergewöhnlichsten Dörfer, die ich jemals besichtigt habe, weil es zu den Orten gehört, die den Besucher verändern. Gelegen in der landschaftlich und historisch sehenswerten Region Barbagia (Provinz Nuoro), ist es vor allem für seine zahlreichen Wandgemälde (murales) bekannt, über deren Herkunft in zahlreichen Zeitungen und Aufsätzen sowie in wissenschaftlichen Texten zu (Kunst-)Geschichte und Antropologie berichtet wird. Doch wie so oft, hängt das wirkliche Kennenlernen des Ortes damit zusammen, wie sehr man in die örtliche Kultur eintaucht.

In Orgosolo scheinen Traditionen noch wirklich lebendig und weit entfernt von touristischer Vermarktung zu sein. Woran das liegt, ist nicht wirklich klar: entweder sind diese einfach zu unbekannt oder aber für die meisten bleibt es bei einem kurzen Besuch, der sich auf das konzentriert, was sofort ins Auge springt, un dalles weitere ausser Acht lässt.
Am 31. Dezember feiert man in Orgosolo « Sa Candelarìa », eine alte Tradition, der sich auf zwei Teile des Tages verteilt: morgens sind die Kinder die Hauptpersonen, nachts die « Frischvermählten », also all die Paare, die im Laufe des Jahres geheiratet haben. Dieser zweite Brauch ist nach Berichten erst ungefähr 30 Jahre alt und stellt eine Veränderung der ursprünglichen Gepflogenheiten dar. So war es früher Brauch, von Haus zu Haus zu gehen und um « sa candelarìa » zu bitten. Diese bestand vor allem im Verteilen von « su cocòne », einem besonderen runden Brot von weicher Konsistenz, und anderen Vorräten. Der Tag war den Mittellosen gewidmet, die so die Möglichkeit bekamen, von der besser gestellten Familien Lebensmittel zu erhalten. Dies geschah ohne Scham, war man doch daran gewöhnt, in der Dunkelheit der Nacht an die Türen zu klopfen.
Ich kam in der Dämmerung nach Orgosolo, aufgeregt und froh, diese einzigartige Erfahrung machen zu können. Die Eltern von Antoni begrüßten mich herzlich in ihrem Haus, wo schon alles für den Abend bereit war und deren Bewohner leise und besinnlich ein feierliches Warten auf diese besondere Nacht zelebrierten.
Nach dem Abendbrot, ab 23 Uhr trafen nach und nach die Dorfbewohner ein: sie kamen mit zwei Freunden und einer Gitarre, allein mit dem Akkordeon oder in einer großen Gruppe. Junge Leute, Gruppen von Jugendlichen, Kindern, Freunden, die sich in der Gasse drängten und auf den Moment warteten, in dem sie die Frischvermählten mit den traditionellen Gesängen beglückwünschen konnten.
Das junge Paar erwartete sie auf der Schwelle des Hauses, und nachdem sie ihren Versen gelauscht hatten, luden sie die Besucher in ihr Haus ein und boten ihnen Wein und GlĂĽhwein und herrliche SĂĽĂźspeisen an.
All diese Köstlichkeiten hatten emsige Tanten und Kusinen vorbereitet, und auch im Verlauf des Abends sorgten sie im Hintergrund unermüdlich dafür, dass alles perfekt war, sodass die Gastgeber sich einzig um ihre Gäste kümmern und sich bei ihnen bedanken konnten.
Es waren zahlreiche Stimmen, a cappella oder begleitet von Gitarre oder Akkordeon, aber die Worte, die in dieser Nacht gesungen wurden, waren die gleichen :
Viva viva s’allegria
E a terra sos ingannos
Bonos prinzipios d’annos
Bos det Deus e Maria
Viva viva s’allegria
Dazzennollu su cocone
Pro more e Zesu Bambinu
Appazas dinare e binu
Tridicu e orju a muntone
Dazzennollu su cocone
Dieser Gesang richtet sich noch deutlicher an die Frischvermählten und wünscht ihnen baldigen Kindersegen und die Möglichkeit, sich zu verwirklichen und im Leben etwas zu erreichen.
E unu lizu unu lizu
E Deus bos diat fizu
A gustu Vostru e non meu
E fizu bos diat deus
S’alligret d’ogni montagna
Ch’es bessida Missennora
Paret s’istella Aurora
Chin sos suos assemizos
Deus bos det duos fizos
Fattos ambos a una forma
Unu siat Papa in Roma
S’atteru Re in Ispagna
S’alligret d’ogni montagna
Dazennollu su cocone
Pro more e Zesu Bambinu.
Video Sa Candelaria in Orgosolo 1
Video Sa Candelaria in Orgosolo 2
So begann mein 2016, ohne anstrengende Förmlichkeiten, stattdessen als Zuschauerin in einer Gemeinschaft, die Traditionen und Empfindungen am Leben erhält. Zum ersten Mal hatte ich die Gelegenheit, auf meiner Insel einem solchen Ereignis beizuwohnen. Diese « Mikroskoperfahrung », das Entdecken eines intakten Mikrokosmos, der noch nicht von der italienischen Kultur beeinflusst ist und in dem die Fernsehgewinnspiele von Videolina (die noch beim Mittagessen in voller Lautstärke liefen) Lichtjahre entfernt schienen.
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